Das Motto 2019: 50 Jahre Stonewall

Zusammen Vielfältig Solidarisch

Wir schreiben das Jahr 1969. Homosexuelle Menschen werden in der deutschen Gesellschaft diskriminiert und geächtet, schwule Männer vom Staat systematisch verfolgt: Auf der Grundlage des Strafrechtsparagraphen 175 sind sexuelle Handlungen zwischen Männern verboten. Für viele Beschuldigte bedeutet bereits der Verdacht einen Gesichtsverlust im Umfeld, eine Verurteilung häufig auch den Verlust sämtlicher beruflicher Chancen. Lesbische Frauen sind ebenfalls von Freiheit und Selbstbestimmung ausgegrenzt: Für lesbische Liebe und weibliche Sexualität bietet die patriarchal geprägte Gesellschaft keinen Platz. Trans* Menschen werden pathologisiert, erleben keine Unterstützung und bleiben ohne Schutz.

Verfolgung und Diskriminierung sind in den 1960er Jahren nicht nur in Deutschland Alltag für queere Menschen. Auch in den USA werden queere Szene und queeres Leben abgewertet und kriminalisiert. Küssen und selbst Händchenhalten in der Öffentlichkeit sind verboten. Als Rückzugsort dienen wenige Gay Bars, zum Beispiel in der Christopher Street in New York. Das Stonewall Inn ist ein solcher Treffpunkt an denen sich sexuelle und geschlechtliche Minderheiten treffen – dort entsteht queere Gemeinschaft. Die Bar bietet denen Raum, die von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt und marginalisiert werden – auch Latinos und Schwarzen, die zusätzlich zu ihrer sexuellen Orientierung auch für ihre körperlichen Merkmale und ihre Herkunft diskriminiert werden. Polizei-Razzien, bei denen die Personalien der Gäste des Stonewall Inn festgehalten und veröffentlicht werden, sind an der Tagesordnung. Wer im Stonewall Inn mit der Polizei in Konflikt gerät, muss mit der Zerstörung der sozialen Existenz rechnen. Die Strategie der Polizei setzt auf massive körperliche Gewalt, eine Gegenwehr ist gefährlich und deshalb keine Option.

Sie wehren sich – am 27. Juni 1969 läuft alles anders.

Frustriert von der jahrzehntelangen Misshandlung durch Gesellschaft, Staat und Polizei leisten die Gäste des Stonewall Inn an diesem Tag Widerstand – diese Razzia verläuft nicht, wie von der Polizei geplant. Die Menschen wehren sich, sie verweigern die Vorlage der Ausweise. Schläge von der Polizei werden von den Gästen der Bar nicht mehr hingenommen. Das Verhaften von Drag Queens, trans* Personen und weiblich gekleideten Männern wird verhindert. Eine Lesbe widersetzt sich ihrer Verhaftung und wird von der Menge unterstützt. Der Aufstand gegen die Polizeigewalt beginnt durch trans* Menschen in der ersten Reihe, durch Schwule und Lesben jeder Hautfarbe.

Die Botschaft, dass sich queere Menschen gegen die Ungerechtigkeiten und Misshandlungen wehren, spricht sich schnell in der Nachbarschaft herum. Bald stehen tausende Protestierende wenigen hundert Polizist_innen gegenüber, die versuchen den Protest gewaltsam zu beenden. Die tagelangen Aufstände vor der Bar erzeugen eine neue, einzigartige Sichtbarkeit im Land, geben Lesben, Schwulen, Bisexuellen und trans* Menschen Mut und inspirieren die Gründung der Gay Liberation Front. Die Proteste in New York stecken mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Botschaft die restlichen Teile des Landes an: Der Kampf für die eigenen Rechte und gegen Diskriminierung erreicht einen historischen Wendepunkt.

Dass die Community für ihre Themen und Interessen erfolgreich kämpfen kann, wird auch in Deutschland wahrgenommen. Die deutsche Lesben- und Schwulenbewegung entsteht. Es bilden sich Community-Organisationen und in zahlreichen Städten beziehen sich Demonstrationen auf die Ereignisse in der Christopher Street. Am 29. April 1972 findet in Münster die erste Schwulen-Demo der Bundesrepublik statt. Es braucht 22 weitere Jahre bis 1994 nach der Wiedervereinigung und scheinbar endlosem Ringen gegen die Kriminalisierung von Homosexuellen der Paragraph 175 ersatzlos gestrichen wird. 1981 wird das Transsexuellengesetz eingeführt und setzt bis heute verbindlich den rechtlichen Rahmen für die Transition von trans* Menschen. Es beendet allerdings nicht die Pathologisierung und Fremdbestimmung von trans* Menschen, sondern schreibt sie in vielen Bereichen  fest – zahlreiche Regelungen des Transsexuellengesetzes werden in den folgenden Jahrzehnten durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Erst 2017 wird die Ehe für Alle inklusive des Adoptionsrechts gesetzlich möglich und beendet die gesetzliche Abwertung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Für die Opfer des Paragraphen 175 wird 2017 die Rehabilitierung und Entschädigung durch den Bundestag beschlossen.

Unsere Erfolge – unsere Lehren

Wir profitieren von den Erfolgen und lernen aus den Erfahrungen der queeren Bewegung der letzten 50 Jahre. Wir haben gelernt, dass wir erfolgreicher sein können, wenn wir zusammen, vielfältig und solidarisch kämpfen.

Wir müssen zusammen kämpfen.

Einzelne können die Diskriminierung, die queere Menschen erleben, nicht überwinden. Deshalb wollen wir uns verbünden und als Lesben, Schwule, Bisexuelle und trans* Menschen gemeinsam für unsere Interessen kämpfen. Außerdem haben wir erfahren, dass die Befreiung von queeren Menschen aus Ausgrenzung, Abwertung und Entrechtung von queeren Menschen selbst erstritten werden muss. Dies gilt für die Erfolge der Vergangenheit genauso wie für die Erfolge der Zukunft. Ohne unser eigenes Engagement werden sie nicht entstehen.

Wir wollen vielfältig bleiben.

Wir sehen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Bereicherung und wir wehren uns gegen die Abwertung dieser Vielfalt. Sexuelle und geschlechtliche Minderheiten erleben weltweit Diskriminierung und brauchen deshalb besonderen Schutz. Wir setzen uns für eine Gesellschaft ein, die zu ihrer Vielfalt und ihren Minderheiten steht und diese schützt, wo Schutz nötig ist. Wir wollen uns nicht anpassen oder verstecken. Wir lassen uns nicht verbieten oder verschweigen. Unsere Sexualität und unsere Identität darf nicht tabuisiert werden. Hierfür brauchen wir keine Normen: Unsere Gesellschaft hat Platz für viele verschiedenen Möglichkeiten, das Leben zu leben.

Wir müssen solidarisch miteinander sein.

Wenn wir zusammen erfolgreich für unsere Rechte, Respekt und Selbstbestimmung kämpfen wollen, müssen wir solidarisch miteinander sein. Als queere Menschen haben wir vieles gemeinsam, aber wir sind auch sehr unterschiedlich. Um gemeinsam queere Bewegung zu sein, müssen wir uns besser kennenlernen, voneinander lernen und füreinander einstehen. Das bedeutet, sich mit den Lebenswirklichkeiten und dem Alltag anderer queerer Menschen zu beschäftigen. Wir wehren uns deshalb auch gemeinsam gegen Diskriminierung und Abwertung, egal wen von uns es trifft. Wir stellen uns der Transfeindlichkeit in den Weg. Wir kämpfen gegen Sexismus und die Abwertung von Frauen. Wir stellen uns gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung von HIV-Positiven. Wir beziehen Stellung gegen Rassismus und unterstützen queere Geflüchtete. Bei all dem müssen wir uns auch mit der Diskriminierung innerhalb der Community und unseren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen.

Unsere Solidarität verbindet uns und kann uns helfen, den gemeinsamen Weg miteinander weiter zu gehen. Dabei endet unsere Solidarität nicht an der Landesgrenze, sondern bezieht queere Menschen in anderen Ländern mit ein.

Am 17. August 2019 feiert die queere Community Darmstadt ihren neunten Christopher Street Day. Wir werden gemeinsam und mit allen, die sich mit uns solidarisieren, in der Darmstädter Innenstadt demonstrieren. Einige von uns werden Regenbogenfahnen tragen, andere gehen vielleicht Hand in Hand oder küssen sich.

50 Jahre Stonewall zeigen, dass wir queere Bewegung selbst machen müssen und es immer mussten. Zusammen, vielfältig und solidarisch gehen wir auf die Straße!